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Editorial

Zusammenfassung,
Summary, Résumé

Impressum

Jens Judjahn

Urformen der Vibration

- Annahmen über den aufrechten Gang,
urgeschichtliche Sexualität
und Vibration in der Fruchtblase

                                                      

Schwingungen entstehen bei der Störung eines Gleichgewichts, wenn gleich-
zeitig Kräfte auftreten, die das Gleichgewicht wiederherstellen wollen.

Als Begriffe werden "Schwingungen" und "Vibration" meistens synonym verwendet. In
diesem Essay steht der Begriff Vibration für Schwingungen, die vom Menschen als Vi-
bration empfunden werden können. Im Zusammenhang mit Körperselbstwahrnehmung
nennt man diese Empfindung Pallästhesie.

Bei einem Erdbeben entstehen Vibrationen mit unterschiedlichen Amplituden und Fre-
quenzen, die in ihren stärkeren Ausmaßen wegen der Folgen für Mensch und Sachen
die Öffentlichkeit alarmieren. Die bergbaubedingten Erdbeben der vergangenen Jahre
im Saarland haben anfänglich keine großen Kreise gezogen. Zunächst sind  viele Schä-
den an den Häusern in den betroffenen Gebieten registriert worden;
diese sichtbaren Merkmale wurden als Bergschäden allgemein an-
erkannt. Aber dann gab es geringere Beben ohne größere äußere
Schäden, über deren Bedeutung die Meinungen schnell auseinan-
dergingen. Auch kleinste Vibrationen, dann sogar Gespräche darü-     
ber, empfanden die Betroffenen, anderen unerklärlich, zusehends
voller Ängste. Die hier irrational erlebten Beben führten bei den vor-
wiegend ländlichen Bewohnern zu rührigen Bürgerinitiativen, was
mit dazu beitrug, dass der Wirtschaftszweig danach eingestellt wurde.

Es lohnt sich, erst einmal die physiologischen Zusammenhänge zu betrachten, ehe wir
zu den ungewöhnlichen Emotionen kommen. Die Vibration trifft auf einen Menschenkör-
per, der ohnehin hohe Schwingungsanforderungen zu lösen hat. Der Physiker und Neu-
ropsychologe Moshe Feldenkrais hat nun die Sensibilität dieses Körpers ziemlich ge-
nau beschrieben. Für ihn ist jede gleichgewichtssichere Haltung "eine in einer Folge von
Stellungen, die eine Bewegung bilden". Um darin zu bleiben, bedürfe es "keiner Energie".
Es verlange eines Wechsels von automatischer, aus unbewussten Teilen unseres Ner-
vensystems stammender Kontrolle und willkürlicher Muskelarbeit, wenn es um aufrech-
te Haltung ginge. Der kinästhetische Sinn würde dies kontrollieren.Schmerz oder eine
andere Störung würde die Sensibilität so beeinflussen, dass man Abweichungen von
der idealen Haltung kaum noch spürt.

Noch zu abstrakt? Wenn man sich im Sinne Feldenkraisscher Körperanschauung frei
und aufrecht auf den Boden stellt, muss man sich darüber im Klaren sein, dass auch
ohne Störung der Körper, unserem Bewusstsein verborgen, über dem Kniegelenk als
seinem stärksten Gelenk hin und her wogt. Denn jede vom stabilen Haltungszustand
abweichende Haltung löst eine Fülle von Muskelreaktionen aus, die alle das Ziel haben,
den stabilen Zustand wieder herzustellen. Über 30 Muskeln können daran beteiligt sein,
die mal in diese Richtung, mal in jene die Haltung vor allem in der Achse korrigieren,
die gerade vorher von einem anderen korrigierenden Muskel einen Schwung bekom-
men hat. Es entstehen Gegentaktbewegungen, wie man sie in der Musik wohl als Syn-
kopen bezeichnen würde. Verändert man jetzt geringfügig das Gleichgewicht, zum Bei-
spiel überstreckt man hierbei nur eine Hand, hat das eine Fülle unbemerkter filigraner,
synkopischer Muskelarbeit zur Folge. Eine einfache und spürbarere synkopische Be-
wegung ist dagegen ein Schritt nach vorn, wenn dieser große Schwung sogleich durch
den Gegenschwung des nächsten Schrittes ausgeglichen wird; deshalb ist Gehen auch
leichter als Stehen.

Auf der Bewusstseinsebene, der Ebene willkürlicher Bewegung, ist der Mechanismus
ruhig und stabil. Offensichtlich könnte eine Störung wie eine plötzlich auftretende Vibra-
tion diesen physiologischen Zusammenhängen nichts anhaben. Also muss die Angst
davor und dabei seelisch begründet sein.

In der Tat erinnert dies an die Angst vieler Patienten mit Gleichgewichtsstörungen, zum
Beispiel nach einem Schlaganfall, wenn sie aus dem Rollstuhl heraus aufstehen oder
ein paar Schritte gehen sollen. Für manche muss die Entfernung zum Boden so wirken
wie für Gesunde, die sich auf einem Hausdach befinden. So müssen sich auch die ers-
ten aufrecht gehenden Menschen gefühlt haben, die noch nicht über ein automatisches
Haltungs- und Bewegungsmuster verfügten. Also steigen wir hinab in archaische Tiefen.

Bei dem folgenden Szenario werde ich versuchen, aktuelle Erkenntnisse der Neurophy-
siologie und Neuropsychologie in die Debatte einzubringen, die ich hier als Therapeut
bisher vermisse. Dabei werde ich nicht die annähernde Sisyphosarbeit der Evolution zu
schildern versuchen. Man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass Schreiben und
Lesen linearere Vorgänge sind und dagegen Evolutionen mehr räumliche Beziehungen
entwickeln; die Natur besteht eben nicht nur aus zwangsläufigen Folgen, sondern eben-
so u.a. aus Parallellen.

Hätte der Urmensch das Aufrichten seines Körpers durch einen plötzlichen Schwung
gelernt, hätte er taumelnd weiteren Bewegungen entsagen müssen. Wäre er dagegen
aus der Hüfte heraus durch Jahrtausende allmählich in die Vertika-
le gelangt, wäre diese Spezies, Schwerkraft-gebeugt, plump und
mit riesiger Rückenmuskulatur versehen, immer wieder ein Opfer
ihrer Feinde geworden. Bleibt nur das allmähliche oder häufig ver-
suchte Aufrichten vom Kopf her. Bezeichnet man unsere Form der       
Wirbelsäule als schlankes "S", dann bietet sich die Brustkyphose
als eine frühe Möglichkeit des Vierfüßlers an, den Kopf anzuheben.
Dazu musste es örtlich oder durch Tätigkeiten bedingte Anlässe
gegeben haben. Dies konnte das Jagen sein, das die Erweiterung
des Gesichts- und Blickfeldes erforderte. Augenwülste sowie bu-
schige Brauen verstärkten wahrscheinlich das Bedürfnis, den Kopf zu heben; erschwer-
te Bedingungen können trainieren. In einer Frühphase des Kopfhebens, in der durch
das enorme Übergewicht der vorderen Kopfhälfte der Kopf noch nicht balanciert werden
konnte, war eine besonders kräftige Nackenmuskulatur notwendig.

Da aber das Kopfheben ohne eine Mitbewegung der Brustwirbel kaum möglich war, und
die Arme den Boden verlassen mussten, ergab sich eine völlig neue Gleichgewichtsan-
forderung. Diese konnte nach meiner Meinung dadurch gelöst werden, dass der sich
aufrichtende Mensch sich auf seinen Kopf mit den Augen als wichtigstem Sinnesorgan
konzentrierte und ihn mehr oder weniger bewusst auf den Halswirbeln balancierte. In-
dem der Kopf zum Objekt der Balance wurde, entfiel für den daruntergelegenen Körper
die Sorge des Fallens, und damit auch die willkürliche Muskelaktivität; sie hätte nur ge-
stört. Soweit der Kopf subjektiv im Gleichgewicht und objektiv in der vertikalen Achse
gehalten werden konnte, musste auch der übrige Körper durch die unwillkürliche Mus-
kelarbeit objektiv im Gleichgewicht sein.

Im übrigen schreibt hier die Existenz der Schwerkraft vor, dass der vom Boden entfern-
teste Teil des Körpers, der Kopf, von allen Körperteilen am meisten balanciert werden
muss. Ein Jongleur wird sich bei der sogenannten Kontaktjonglage vor allem auf den
höchstgelegenen der zu balancierenden Gegenstände konzentrieren.

Und beim Fallen ist der Kopf der gefährdetste Körperteil.

Ich trenne in der Annahme einer evolutionären Arbeitsteilung das Anheben des Kopfes
mit dem oberen Rumpf sowie den gelegentlichen Gebrauch der freigewordenen Hände,
was durch besseres Weitsehen und Erreichen von höheren Gegenständen angeregt
wurde, entschieden vom Aufrichten des übrigen Körpers: Das erste wird Jahrtausende
gebraucht haben, das zweite mit einer anspruchsvolleren Kopfbalance und gelegentli-
chem Gebrauch der Hände zum Haltfinden und Hochziehen dagegen nur etwa eine Se-
kunde, aber immer nur ad hoc, um noch Weiteres sehen und noch Höheres erreichen
zu können. Und mehr - bei allen missglückten Versuchen.

Den oder die Kopfbalancierende/n nenne ich in diesem Text CAVE (von Caput, Kopf
und Vestibularis, Gleichgewicht; auch "Hüte dich" oder "Vorsicht!"). Nicht neu war für
CAVE, wie für viele Säuger vor ihr, die ständige Auseinandersetzung mit der Schwer-
kraft. Für den schwanzlosen Affen mögen dünne Äste ein gutes Trainingsgerät darge-
stellt haben, wie dies neuerdings ins Spiel gebracht wird. Man kann sich auch Balancie-
rungen mit Objekten außerhalb des Körpers von CAVE vorstellen, wie zum Beispiel mit
einem geschulterten Kind. Für die geglückte Kopfbalance war die evolutionäre Entwick-
lung des Übergangs zwischen Halswirbel und Kopf, des Foramen magnum, nach vorn
hin wichtig, weil sich dadurch das Übergewicht des vorderen Kopfteils verringerte. (Fel-
denkrais macht darauf aufmerksam, dass die beiden ersten Halswirbel unter dem Fora-
men fast die einzigen der 206 heutigen Menschenknochen sind, die in der Balanceach-
se, nämlich vertikal, ausgerichtet sind.)

Der Focus auf den Kopf und dessen Balancieren bekam eine immer größere Bedeu-
tung je mehr es CAVE gelang, auch den Körper vom Becken her aufzurichten, ob dies
gelegentlich, mit möglichst kontrolliertem Schwung, oder im Laufe vieler Generationen
gelang. Das sensorische Gleichgewichtsystem war CAVE schon vorher eigen, aber
der aufgerichtete Körper stellte nun ungleich höhere Ansprüche. Mit dem Kopf als Ba-
lancierobjekt erhielt der übrige Körper jedoch nach dem Boden einen zweiten festen
Punkt, zwischen denen er sich mit seinen vielen Gelenken und Hebeln bewegen konnte.
Alle diese Bewegungen wurden zu Schwingungen, die einerseits durch Flieh- und
Schwerkräfte verstärkt und andererseits durch unwillkürliche Gegenbewegungen ausge-
glichen wurden. (Zwei Hinweise: Afrikanische Frauen tragen Gegenstände auf dem
Kopf, weil die Balance weniger die Schwerkraft herausfordert als einseitiges Tragen, das
mehr Muskelkraft benötigen würde. Laufsteg-Models tragen in der Ausbildung auf dem
Kopf Bücher, um dadurch eine physiologisch optimale Hal-
tung zu bekommen.)

So ist das mehr und später kaum bewusste Balancieren
des Kopfes das Geheimnis der dauernden aufrechten Kör-
perhaltung, und zwar bis heute. Wenn ich den Kopf als ein          
körperschematisches und -mechanisches Zentrum bezei-
chne, werde ich in der Physiotherapie einschließlich Ergo-
therapie derzeit noch wenig Zustimmung finden. Über die
phylogenetische Betrachtung hinaus weise ich als eine on-
togenetische parallelle Eigenschaft auf die "Kopffüßler" hin, wie sie etwa 2- bis 4-Jährige
als Bild des Menschenkörpers zeichnen. Die "Kopffüßler" gelten Therapeuten als Aus-
druck des in diesem Fall entwicklungsgemäßen Körperschemas.


Körpermechanisch ist das Aufrichten CAVEs vorstellbar, wenn man sich den Tiefstart
eines Sprintläufers vergegenwärtigt, und zwar ab dem Kommando "Fertig". CAVE, aus-
gestattet mit ausreichend langen Oberschenkeln und Armen, kippt etwas nach vorn
und streckt das vordere Bein - bei diagonaler Körperachse, den Fall auffangend. So-
gleich folgt der zweite Schritt, der schon fast die gesamte Körperstreckung ergibt, wenn
Kopf und Oberkörper gleichzeitig nach oben schwingen. Mit dem dritten Schritt und 2-3
Metern dürfte die Vertikale erreicht sein und der Vorgang ist dann "nur" noch ein Gleich-
gewichtsproblem. Die kurzzeitige Überlistung der Schwerkraft, indem man sie nutzt, ist
auch mit der fachgerecht angeleiteten Aufstehübung eines derart betroffenen Patienten
vom Sitz aus vergleichbar.

Wieviel vergebliche und halbwegs geglückte Versuche aber mag CAVE gebraucht ha-
ben, einen solchen Mechanismus zu nutzen? Wie häufig verlor sie wohl die Aufmerk-
samkeit auf ihren Kopf, da unwillkürliches Balancieren in ihrem Gleichgewichtssinn
noch nicht ausgebildet war? Wie oft war sie gefallen, ohne damit auch nur einen Schritt
machen zu können? Jetzt muss man sich vorstellen, wie plötzlich der Boden bebte. Wie
die Vibration ihr über den ohnehin unsicheren Rumpf in Richtung Kopf kroch, wie die
Erdbeben-Urgewalt das zarte neue Gleichgewicht in Frage stellte. Hier brauchte die Vi-
bration keine zerstörten Häuser, um über das limbische System - mit Hilfe desThala-
mus und Hypothalamus - existenzielle Angst auszulösen. Das limbische System wird
als Gefühlszentrale nicht nur des Homo sapiens, sondern auch anderer Säugetiere be-
trachtet. Hier hat es sogar häufig andere Hirnzentren dominiert, wovon sich unschwer
überzeugen kann, wer das Glück hat, sich einer Katze oder einem Hund zugehörig zu
fühlen.

Vielleicht kann man in diesem Augenblick CAVE besonders nahe sein, für den - wegen
der Abwechslung ist er hier einmal männlich - in seiner Angst die Kopfbalance immer
wieder zum Nebenergebnis zu werden drohte. Diese Angst beschäftigt bis in die heuti-
gen Tage geringer Erderschütterungen uns und unser limbisches System. Wenn die-
ses für andere Vibrationen auch andere Gefühlsantworten gibt, ist es vermutlich doch
durch die Ängste, ja Kopflosigkeit CAVEs bei Vibration überhaupt aufgeschlossen wor-
den.

Wenn Vibration von außen Angst auslöst und bei Tieren meist einen Fluchtreflex, dann
ist andererseits die Rolle der Vibrationsempfindung innerhalb des für das Aufrichten bei
CAVE hoch geforderten kinästhetischen Systems zu beachten. Aus heutiger Sicht ist
die Pallästhesie CAVEs als übersensibilisiert anzunehmen. Das kann zum Beispiel be-
deuten, dass Einflüsse seelischer Somatiken wie niedrigfrequente Vibrationen bei Angst
oder Freude, uns nebensächlich, für CAVE zum weiteren Bewegungsproblem wurden.

An dieser Stelle eine Anmerkung zum Thema Kreuzgang, also der gegenteiligen Bewe-
gung des Oberkörpers zum Becken. Ihn habe ich für CAVE zunächst als normal  be-
trachtet, wenn er diese den Affen geläufige Gangart - Vorderbein rechts vorn, wenn Hin-
terbein links vorn und umgekehrt - in der Vertikalen fortsetzt. Dies ergibt nämlich vesti-
bularisch begründete Laufstabilität. Wissenschaftler der Universität Zürich haben aber
jüngst durch subtile Messung von Fußabdrücken herausgefunden, dass das Gehen bei
Urmenschen besonders schwierig gewesen sein muss, weil dabei der Oberkörper nicht
wechselseitig mitschwingen konnte. So, als würde man eine schwere Last tragen oder
das Gehen am Rollator trainieren. Starre ist jedoch eine natürliche Reaktion auf Angst
(bei Tieren ist sowohl der Totstell- als auch der Fluchtreflex bekannt), und dieses Ver-
halten würde nur die Mitbeteiligung besonderer Emotionalität beim Gehenlernen bestäti-
gen.

Durch einen phylogenetisch/ontogenetischen Vergleich ist übrigens anzunehmen, dass
der vor Gefahren warnende Teil des limbischen Systems, die Amygdala, sich vor den
Hirnteilen entwickelt hat, die allein die Ursachen dieser Gefahren erkennt.

Da CAVEs mühevoller aufrechter Alltag aber so voller
Schrecken war, muss es eine außergewöhnliche und viel-
leicht noch unbekannte frühgeschichtliche Motivationslage       
gegeben haben, die ihn diesen Weg fortsetzen ließ.

Die bekannten Theorien über den aufrechten Gang be-
schreiben jeweils den Zweck der Haltungsveränderung, jedoch kaum ein Motiv, diese
Mühen und Ängste täglich und dauerhaft zu überwinden. Wenn ein Gelegenheits-Zwei-
beiner hier und da einmal eine hochgewachsene Frucht greifen, in weite Ferne sehen
oder kurzzeitig eine längere Strecke bewältigen wollte, musste dann nicht wegen untaug-
lichen Körpers und Gleichgewichts sogleich eine Strafe folgen, die Wiederholungen reiz-
los machten?

Eines Tages (es kann auch ein Jahrtausend gewesen sein) begann CAVE-Frau,
sich nicht nur gelegentlich aus ihrer bequemen vierfüßigen Haltung zu erheben, weil sie
es leid war, für jedermann als verfügbar zu gelten. Dass durch die Skelettveränderun-
gen, vor allem der Oberschenkellänge, ihre Vagina sichtbarer geworden war, hatte ja
noch Funktion: Die Weibchen fortgeschrittener Affenspezies sind hier auffallend. Ihr
entblößtes Geschlechtsteil entzog sie ihm nun - nicht aus Scham, die sich aus einer
besser entwickelten Großhirnrinde hätte ergeben können, sondern aus Kalkül.

Dadurch, dass sie sich nach Möglichkeit aufrecht hielt, wenn ein Mann in der Nähe war,
hatte sie zunächst zweierlei erreicht: Erstens konnte sie sich unerbetenen Attacken je-
derzeit verschließen. Zweitens hatte sie nun den Partner der Wahl, was sich auch auf
einen gesteuerten Nachwuchs auswirkte. Je mehr Frauen diese Konsequenz zogen,
umso kleiner war die Gruppe der anderen, für die jene Attacken häufiger wurden, und
umso stärker war der Druck, ebenfalls aufrecht zu leben.

Und auch CAVE-Mann hatte sich entwickelt. Vorher war das Weibchen gewohnt, von
hinten genommen, genauer gesagt, bezwungen zu werden. Als Männchen hatte er sich
mit dem Vorderkörper, der noch kein Oberkörper war, auf es geworfen, um es festzu-
halten, die Schwerkraft half ihm dabei. Wenn die beiden Vorderkörper als erstes Bewe-
gungsziel ruhig wurden, durfte er im Becken aktiv werden und sein Glied einführen. Die
schnellen Bewegungen wurden dort durch die flexible Wirbelsäule erleichtert. Bei die-
sem Vorgang musste das Männchen den Antagonismus zwischen Bewegung und Ru-
he so bewältigen wie das Weibchen den zwischen Appetenz und Aversion.

Durch häufiges Aufrichten waren aber seine Oberschenkel etwas länger geworden und
der gewohnte Geschlechtsakt muss - soweit er denn gewollt war - für beide Partner von
daher eine Katastrophe gewesen sein. Auf halber Höhe, auch bei mehr aufgerichtetem
Oberkörper, war sein Schwerpunkt noch zu weit vorn, als dass eine stärkere vordere
Oberschenkelmuskulatur den Körper hätte tragen können. Dazu hätte es eines den
Körper tragenden Kniegelenks mit besserer  Streckfähigkeit bedurft. Aber auch alle ho-
rizontalen Lagen kamen für ein frühes CAVE-Pärchen kaum in Betracht, schon weil
hierbei die Erdanziehung seine noch wenig trainierten Hüftbeugungen besiegt hätte.

Immerhin hatte sich bei ihm eine kräftige Hüfte entwickelt mit teilweise neuen Muskeln
hinten am Becken und an den Oberschenkeln.Jetzt war es ihm möglich, seinen bald so
zu nennenden Unterkörper weit zurückzuziehen und kraftvoll nach vorn zu drücken. Es
musste nur trainiert werden!

Im Zuge häufigen Hüftschwungs beim Aufrichten war in der Vorwärtsbewegung eine
Überstreckung erreicht worden, die es möglich machte, dass in der vertikalen Position
die Füße und die Schulter, anders als vorher und bei heutigen Menschenaffen, dahinter
ein wenig zurücklagen. In der rückwärtigen Bewegung ergab sich mehr Abstand vom
weiblichen Körper.

In Vollendung war das neue Beckenpotenzial gekennzeichnet durch das Bewegungs-
ausmaß zwischen "tierisch" gebeugter Hüfte und seiner Überstreckung sowie den
durch dieses Ausmaß möglichen Schwung. Der Bewegungsablauf ist mit dem des Ab-
sprungs eines Skispringers vergleichbar; Zahl und Begeisterung
weiblicher Fans lassen derartige Assoziationen vermuten. Beim
Absprung wird die Hüfte allerdings wegen der Aerodynamik nicht
überstreckt - die Wucht macht´s.                                                                           

Dieses neue Potenzial konnte CAVE-Mann ausnutzen, wenn sich
beide Oberkörper voneinander abhoben, seine Wirbelsäule also
frei wurde. Augenscheinlich gelang es ihm, wenn er seine Arme ei-
nerseits zum Abstützen gebrauchte und andererseits durch die nun
höher platzierte Schulter einen festen Angelpunkt bilden ließ. Unter
diesem konnte jetzt der größte Teil seines sonst zum Aufrichten geeigneten Körpers
bis zum zweiten festen Punkt, den Knien, frei schwingen. Ausmaß und Kraft der Schwin-

gungen wurde durch das Becken in der Mitte bestimmt.

Der Penis musste tendenziell dem neuen Ausmaß der Schwingungen entsprechen, um
weit genug in die Vagina  vordringen und, zurückgezogen, in ihr bleiben zu können. Die
Vagina wurde in der Tendenz tiefer. Nichts beschleunigt die Evolution mehr als günstige
geschlechtliche Merkmale: Die Ursachen verunglückter Kopulationen wie zu kurze Pe-
nisse, die zum Samenerguss nicht in die Nähe des Muttermundes gerieten, wurden
nicht vererbt. Jedenfalls hat der Hominide nicht umsonst den im Verhältnis zum Körper-
ausmaß größten erigierten Penis aller Säuger.

CAVE-Frau muss indessen noch in anderer Weise aktiv gewesen sein, wenn er sein
neues Potenzial ausnutzte: Soweit die Tiefe ihres Organs noch nicht seinem Schwin-
gungsausmaß entsprach, war sie zu Mitbewegungen gezwungen.

Ein weiterer Evolutionssprung, der das neue Beckenpotenzial über das große Schwin-
gungsausmaß hinaus kennzeichnet, geschah durch den Aufbau von Vibration und Pall-
ästhesie.

Schon immer wurde der Peniskopf beim jeweiligen Eindringen vor dem Muttermund
durch den vorderen Teil der männlichen Hüfte gehindert, die auf das Gesäß traf. (An
dieser anatomischen Begrenzung musste CAVE-Mannes Aggressivität haltmachen,
und der Ort seiner Lust war in diesem Moment auch der seiner Beschränkung.) Durch
sein Beckenpotenzial handelte es sich aber nicht mehr um Schieben wie zuvor, son-
dern eher um Stoßen. Wenn CAVE-Frau sich nun nach vorn an etwas festhielt und
sich leicht beugte, war die Gesäßmuskulatur angespannt und fest und für Vibration so-
wohl fördernd wie auch leitend.

Durch die Wucht des neuen Beckenpotenzials hatte der nun ganz andere Aufprall Vi-
brationen zur Folge, die sich in beider Beckenbereich ausbreiteten.

Darüber hinaus entstand durch das große Schwingungsausmaß ein langsamererTakt
der Stöße, sodass sich die Vibrationen besser entfalten konnten als es beim vierfüßi-
gen Mann mit seinem schnellen Kopulationstakt der Fall gewesen wäre.

Brauchbare Leiter für Vibration sind Knochen, Flüssigkeiten sowie angespannte Musku-
latur. Während die Vagina von diesem Material ein wenig entfernt platziert ist, gelangte
die Vibration der Beckenstöße letzten Endes wohl auch durch den mit Blut prall gefüll-
ten Penis in die Schleimhaut der Vagina.

Nun war die zweite Voraussetzung für die evolutionäre Bildung eines neuen Rezeptions-
zentrums für Vibration im weiblichen Genitalbereich erfüllt: 1. anatomisch - das Vorhan-
densein von entsprechenden Mechanorezeptoren an vielen anderen Körperstellen, vor
allem an Gelenken und Knochen, 2. mechanisch - die Erzeugung von Vibration durch
das Beckenpotenzial des CAVE-Mannes, 3. neuronal - die Verschaltung von Vibrati-
onsempfindung über das limbische System.

Bei einem derartigen Prozess sind ferner konditionierende Wirkungen denkbar. CAVE-
Frau kann die einströmende Vibration wie eine Art vorausströmenden Samenerguss
empfunden haben. Im übrigen hat sie womöglich auch die durch Erregung des Mannes
entstandene Muskelvibration in der beschriebenen elementaren Weise aufgenommen.
Nur in der Orgasmusphase sind derartige Umweltempfindungen kaum möglich.

Jedenfalls hatte sich CAVE-Frau ihre historisch erste Freiheit genommen und half
gleichzeitig CAVE-Mann, eine neueTechnik auszubilden, in der sich beide trafen.

War sie als Affenartige noch unterworfen und zu vielen Bewegungen weder willens noch
fähig, hatte sie nun einen Partner, der in Phasen der Kopulation körperlich Abstand neh-
men musste. Dieser Raum ermöglichte ihr neue, eigene Aktivitäten, die umso nahelie-
gender waren, als sich in dieser Zeit beide Partner gegenseitig Hilfestellungen zur neu-
en Körperhaltung leisten mussten. Die Hände und Arme wurden nicht nur zum Hochzie-
hen, Halten und Stützen an Bäumen gebraucht.

Beim Leben in der Vertikalen, auch über das Sexualleben hinaus, sprechen wir von Ta-
gesaktivitäten. (Erst viel später, mit der Entwicklung der Sprache, ist eine nachtaktive
Sexualität mit horizontaler, sich gegenseitig zugewandter Körperlichkeit zu vermuten.)
Das Schauen, Sehen und Blicken bekam nun eine ungleich größere Bedeutung als das
Wittern, Riechen und Schnuppern. Die Auswahl war für CAVE-Mann und -Frau überwie-
gend ein visueller Vorgang und damit auch intensiver. Es entwickelte sich eine erste vi-
suelle Ästhetik. Für den Mann mit dem Blick auf die sich aufrichtende Frau ist dies wohl
plausibel. Er, von der Jagd gewohnt, unter anderem Wild von der Gestalt und den Be-
wegungen her zu beobachten, war auch im Erotischen vor allem über seine Augen an-
sprechbar. Oder es gab noch keine Jagd in dieser Zeit, etwa wegen fehlender Werk-
zeugbenutzung. Dann ist CAVE-Mann für das Jagen durch den neuen Stellenwert des
visuellen Sinnessystems geschult worden.

Da die Sexualität nunmehr dem Tag gehörte und nicht der Nacht, wurde bei der Part-
nerwahl buchstäblich mehr über die eigenen Grenzen hinaus geschaut. Dadurch wurde
die Auswahl größer und damit ebenso die Möglichkeit, einen gleichen Partner zu finden,
wodurch die Wahrscheinlichkeit sich erhöhte, CAVE-Kinder zu zeugen.

Wodurch einmal diese zunächst angststiftenden und dann im Sinne dieses Aufbruchs
wahrhaft elysischen Verhältnisse, die unsere Entwicklung deutlich beschleunigte, ein
Ende nahmen, muss ebenso noch im Dunkel der Geschichte bleiben wie die Frage, ob
das männliche Beckenpotenzial inzwischen zu- oder abgenommen hat, wenn man es
denn wissen will.

Erhalten ist immer noch der vibratorische Reiz; der Massenabsatz vibrierender Dildos,
Vibratoren genannt, weist darauf hin. Indes wäre dies ohne die Gefühlsanwort auf Erdbe-
ben und andere Vibrationen, unserem limbischen System & Co sei Dank, nicht mög-
lich gewesen.

(Innerhalb dieser Klammer bewegen wir uns nunmehr an einem ganz anderen
Ort, nämlich in der Fruchtblase einer schwangeren Frau unserer Tage. Dass wir hier et-
was weniger auf Vermutungen angewiesen sind, ist für das Einklammern ein weiterer
Grund.

Wasser ist ein guter Leiter für Vibration, und die Fruchtblase ist ein Ort, in der sie jeder
von uns erlebt hat. Allerdings ist eine Wiener Gynäkologin, die im Web eine gewisse
Meinungsführerschaft in der häufig gestellten und beantworteten
Frage hat, ob der Gebrauch der erwähnten Dildos eine Gefahr für
das Baby darstellen könnte, ganz anderer Ansicht: die Vibrationen
würden über das Fruchtwasser "abgefangen". Doch mit wenig Auf-       
wand lässt sich das Gegenteil beweisen: Man füllt einen kleinen
Plastikbeutel mit Wasser, steckt eine Hand hinein und bindet ihn
ohne Lufteinschluss ab. Dann lässt man ein vibrierendes Gerät da-
gegenhalten. Die in der ganzen Hand und besonders an den Fin-
gerspitzen zu spürende Vibration ist im Vergleich zur direkten Be-
rührung nur wenig abgeschwächt.

Erste Reaktionen auf äußere Reize zeigen sich - um bei genannter Perspektive zu blei-
ben -  in unseren Stellreaktionen auf Körperbewegungen der Mutter. Dies geschieht
schon in unserer embryonalen Phase, also vor dem 3. Monat, noch in vollem Haarpelz.
Wenn wir mit Vibration konfrontiert werden, reagieren wir in dieser Zeit ebenfalls. Damit
beginnt der Aufbau der ersten, mit Schwingungen verbundenen Wahrnehmungssyste-
me.

Diese Verbindung des im 4. Monat vollendeten Gleichgewichtssinns mit Pallästhesie
ist deren erstes deutliches Zeichen. Die in den Gelenken sitzenden Mechanorezepto-
ren für Vibration brauchen wir, um die Positionen unserer Körperteile zu empfinden. Die
nichtnervöse Zentrale des Gleichgewichtssinns im Innenohr, wo es wiederum eine Ver-
bindung zum Sehnerv gibt, benötigt Informationen darüber.

In der sich auf Empirie berufenden Literatur finden sich bemerkenswerte Unklarheiten
darüber, ob unsere nachweisbaren embryonalen Reaktionen auf Herztöne, Körperge-
räusche, Sprechen, Lachen, Schritte u.v.m. der Mutter über Vibration oder über Schall
zustandekommen. Nun, beider Wellen werden durch das Medium Fruchtwasser gelei-
tet. Vibration ist per se mit Schall verbunden wie Schall mit Geräusch. Die Instrumente
des Hörens in unserem Ohr sind aber erst bis zur 28. Schwangerschaftswoche vollen-
det. Mindestens bis dahin "hören" wir als Embryo und Fetus mittels Vibration vermut-
lich so, wie eine bekannte taube Geigerin ihre Musik als Vibration empfindet. Und wenn
unstreitig ist, dass wir auf Musik von Mozart - doch wohl nicht das Requiem - mit Beru-
higung reagieren, auf Wagner oder Heavy Metal jedoch erregter, ist der Grund viel-
leicht weniger der Ton als die Vibration.

So fühlen wir die Schritte der Mutter und anderes schon als Embryo, wenn sie zum Bei-
spiel eine Tür zumacht, ins Bad zur Toilette, dann zum Waschbecken geht. Solche wie-
derkehrenden Vibrationsreize bilden wiederkehrende Reihen und können von daher zu
Reihenrekonstruktionen, also zu einer Grundlage des Sprachver-
ständnisses, anregen. Ferner kann die gleiche Erfahrung später
auch zu einer ganz anderen Hirnleistung beitragen, wenn wir den
Raum, auf den sie sichbezieht, endlich kennenlernen. Natürlich ge-
hört zu derartigen Erfahrungen auch Gedächtnis, das nach der Li-        
teratur überwiegend erst in den letzten Schwangerschaftswochen
voll ausgebildet ist. Das Gedächtnis wird im Schrittbeispiel eben-
falls gefördert. Es ist übrigens über das limbische System auch
wiederum mit der Pallästhesie verbunden, die überall "mitzumi-
schen" scheint.

Die nahe Verwandtschaft des Vibrations- mit dem Hörsinn, die Verbundenheit des ers-
ten mit so vielem anderen, ohne dass er auffällige Funktion erhält, lässt ihn nicht zu ei-
nem der "Bausteine" werden - weder der Motorik noch der Sensorik. Um bei dem pro-
minenten Bild zu bleiben, ist aber die Vibrationsempfindung unter den Bausteinen der
Mörtel.)

Erinnerungen an Zeiten vor der Geburt sind als zuverlässig kaum bekannt,
doch anders verhält es sich mit der Langzeitspeicherung als sie voraussetzenden Ge-
dächtnisschritt. Häufig wird von sonst unerklärlichen Fähigkeiten und Vorlieben berich-
tet, bei denen sich herausstellt, dass die Mutter die dazu gehörige Handlung in der
Schwangerschaft ausgeführt und erlebt hat. Der Dirigent Boris Brott erzählt, dass er
einmal vor einer ihm neuen Partitur stand, die Cellostimmführung bemerkte und plötz-
lich wusste, wie alles weiterging, ohne dass er in den folgenden Seiten blätterte; später
erfuhr er von seiner Mutter, einer Cellistin, wie sie vor seiner Geburt ausgerechnet die-
se Passagen eingehend geprobt hatte. Andere berichten von Fremdsprachen, die zu
lernen ihnen unerklärlich leicht fiel; die Mutter hatte sie vor der Geburt geübt. Und man-
che meiner Leser werden aus ihrem Umfeld ein Beispiel kennen, vor allem, wenn sie
beruflich Mütter befragen.

Insofern ist nicht auszuschließen, dass die Pallästhesie jeder Art unbewusst eine Ver-
bindung zu vorgeburtlichen Zuständen darstellt ebenso wie zu stammesgeschichtlichen.
Verbirgt sich hinter der Pallästhesie demnach die Erinnerung an sinnenfrohe Zeiten?

Wer solchen Gedanken nicht folgen mag, wird möglicherweise eine andere Gemein-
samkeit der drei hier beschriebenen unterschiedlichen Urformen - also in Zusammen-
hängen mit Gleichgewicht und Sexualität der Stammesgeschichte und dem Aufbau der
Sensorik - erkennen. Das Gemeinsame liegt in der unbewussten Hinwendung des Re-
zipienten zur Quelle der Vibration, zu dem, der sie gibt. Es ist so, als wäre diesem Reiz
immer eine Frage beigemischt:

Woher?

Mit Vibrationsaufgaben Arbeitende berichten häufig von besonders starken therapeuti-
schen Beziehungen zu den Patienten nach deren Reaktionen und Rückmeldungen und
nach Gegenübertragungen. Dies gelte nicht nur für Vibrationen, die mittels der körperli-
chen Berührung ausgeführt werden, sondern auch für die Ausführung mit dem Gerät.
Obwohl die Pallästhesie dabei nicht unmittelbar, sondern mit einem seelenlosen Medi-
um erzeugt wird, wäre die Wirkung "direkt".

Die Aufmerksamkeit des Patienten oder Rezipienten ist indes geprägt wie bei einer Mit-
teilung. Mitteilung, Meldung, Information - das ist wohl der Kern der Vibrationsempfin-
dung und vielleicht der Vibration selbst. Dies wird deutlicher, wenn man sie noch verall-
gemeinern will, über das Mechanische hinaus. Der Physiotherapeut Richard Breuer hat
dafür ein Bild: die Rhythmik der Rauchzeichen von Indianern.

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